der kita kollaps warum deutschland endlich auf fruehe bildung setzen muss 978 3 451 60150 7 83388Seit vielen Monaten sind die Warnrufe für das System KiTa nicht mehr überhörbar: Da ist sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft von einem „System am Limit“ oder immer häufiger auch von einem drohenden „Kita-Kollaps“ die Rede. Passend dazu hat Ilse Wehrmann, kämpferische und bestens vernetzte Pionierin der frühkindlichen Bildung, jetzt ein Buch unter dem Titel „Der Kita-Kollaps. Warum Deutschland endlich auf frühe Bildung setzen muss!“ veröffentlicht. Sie analysiert hier die Ursachen der Misere und zeigt auf, was sich verändern muss.

Das Buch von Ilse Wehrmann beginnt mit über einem halben Dutzend Vorworten prominenter Expert*innen der frühkindlichen Bildung - von Wassilios Fthenakis über Gabriele Haug-Schnabel und Xenia Roth bis zu Susanne Viernickel. Schon hier wird überdeutlich, dass im KiTa-System ein dringender Paradigmenwechsel notwendig ist, um das Wohl der Kinder und ihr Recht auf Bildung zu gewährleisten.

Ilse Wehrmann spricht dann selbst von einem „politischen Offenbarungseid“: „Die Industrienation Deutschland ‚kriegt es nicht gebacken‘ eine funktionierende Kindertagesbetreuung zum Wohl der Kinder und ihrer Entwicklung zu gewährleisten.“ Sie muss konstatieren, dass sich die Politik im Kern nicht wirklich für Kinder und deren Belange interessiert, weil sie auf kurzfristige Erfolge und die nächsten Wahlen ausgerichtet ist.

Regulierwut und Labyrinth von Auflagen

In der Folge schildert die seit vielen Jahren bundesweit als Beraterin für Träger, Politik und Unternehmen tätige Expertin wie Bürokratismus, Regulierungswut und ein Labyrinth von Auflagen, Nicht-Zuständigkeiten und auch Finanzierungswegen die notwendigen Ausbau- und Personalgewinnungsmaßnahmen lähmen und ad absurdum führen. Und nach dem Hindernislauf bis zur Betriebserlaubnis, so Wehrmann, interessiere sich niemand mehr für die pädagogische Qualität der Arbeit in den KiTas. Daher fordert sie klipp und klar „unabhängige Qualitätsinstitute“ und eine entsprechende Evaluation der KiTas.

Immense Herausforderungen der letzten Jahre

Nach diesem Blick auf grundsätzliche Fehler im System geht Ilse Wehrmann ausgiebig auf die immensen Herausforderungen der vergangenen Jahre ein: Von der Corona-Pandemie über den sich immer weiter verschärfenden Fachkräftemangel sowie die aktuellen Flucht- und Migrationsbewegungen nach Deutschland bis zu den zunehmenden psychischen Belastungen von Kindern. So habe sich bei den Fachkräften ein Teufelskreis aus Überlastung, Krankheit und Abwanderungswillen entwickelt, der auch Neu- und Quereinsteiger*innen abschrecke. Zudem drohe eine Spirale der Deprofessionalisierung durch Absenkung von Niveaus wie bei der viel kritisierten „Experimentierklausel“ in Bayern.

Voranschreitende Bildungsungerechtigkeit

Scharf brandmarkt die ehemalige Erzieherin und Diplom-Pädagogin aber auch die „voranschreitende Bildungsungleichheit“ in Deutschland. KiTas in benachteiligten Sozialräumen fehle es an gezielter Unterstützung und „ob Kinder einen Betreuungsplatz in der Kita bekommen, hängt in Deutschland stark vom Elternhaus ab“ – denn Kinder aus armutsgefährdeten oder bildungsfernen Familien hätten in Deutschland nachweislich viel schlechtere Chancen einen Betreuungsplatz zu bekommen. So beginne die Spaltung der Gesellschaft schon vor und in der KiTa.

Masterplan für Bildungsoffensive

„Es herrscht Alarmstufe Rot!“ stellt Ilse Wehrmann resümierend fest und sieht das Kindeswohl flächendeckend gefährdet. In diesem Sinne fordert sie einen grundlegenden Paradigmenwechsel in unserer Gesellschaft, um Kinder und ihre Rechte in den Mittelpunkt zu rücken. Die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz sei dazu ein wichtiger Schritt. Sie fordert in ihrem Buch aber auch einen „Zehn-Jahres-Masterplan für die Bildungsoffensive“ und einen entsprechenden Staatsvertrag zwischen Bund und Ländern. Dazu sollten neben einem „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro unter anderem Runde Tische auf Bundes- und Länderebene, die Einführung von bundesweiten Qualitätsstandards, die Evaluierung und Qualitätssicherung der Arbeit in den KiTas und ein „Bundesrahmen-Bildungsplan“ gehören. Um dies zu erreichen, müsse frühkindliche Bildung zur „Chefsache“ werden – vom Bundeskanzler über die Ministerpräsidenten bis zu den Bürgermeister*innen vor Ort.

Neben dem umfassenden Masterplan stellt Ilse Wehrmann auch eine Reihe konkreter praxisbezogener Reformen u.a. für die Ausbildung und die Arbeit in den KiTas vor. So plädiert sie unter anderem für ein gemeinsames Studium von Elementar- und Primarpädagog*innen sowie für „multiprofessionelle Teams“ und die „Einbeziehung fachfremder Menschen in den KiTa-Alltag“.

Den Nerv der Zeit getroffen

Der „Kita-Kollaps“ ist ein Buch, das den Nerv der Zeit trifft und Klartext spricht. Auf der Grundlage ihres reichen Erfahrungsschatzes analysiert Ilse Wehrmann den erschreckenden Status Quo unserer frühkindlichen Bildung und zeigt plastisch und mit vielen Beispielen, woran es hapert und wie es besser laufen könnte. Ihre Reformvorschläge wie ein „Masterplan“ sind dabei teilweise schon etwas älter und vielleicht derzeit auch utopisch, können aber noch einmal frischen Wind in die Debatte bringen, um das KiTa-System vor dem tatsächlichen Kollaps zu bewahren.

  • Ilse Wehrmann: Der Kita-Kollaps. Warum Deutschland endlich auf frühe Bildung setzen muss! Herder-Verlag, 256 S., 22 Euro

Karsten Herrmann