Angesichts von Fachkräftemangel, Corona-Pandemie und anderen Krisen wie dem Klima-Wandel oder dem Krieg in der Ukraine zeigen sich Kinder in der KiTa zunehmend in ihrer körperlichen und sozio-emotionalen Entwicklung belastet. Als zentrale Qualitätsaspekte der frühkindlichen Bildung standen so auch die Gesundheit und das Wohlbefinden in der KiTa im Fokus der BAG-BEK-Herbsttagung an der Universität Leipzig.

latzkoAls Dekanin der erziehungswissenschaftlichen Fakultät begrüßte Prof. Dr. Brigitte Latzko die rund 80 Teilnehmer*innen und gab ihrem „Stolz“ und ihrer „Freude“ Ausdruck, die BAG-BEK-Tagung an der Universität Leipzig ausrichten zu dürfen. Sie wies auf Leipzig als „zunehmend sichtbaren Akteur in der frühkindlichen Bildung“ hin und hob dabei insbesondere auch den Wissenschafts-Praxis-Transfer mit einem Modellkindergarten auf dem Campus hin. „In den ersten Jahren liegt alles“ unterstrich sie und forderte die Politik auf, Schluss mit den Plattitüden zu machen und mehr in die frühkindliche Bildung zu investieren.

Vernetzen und Bündnisse schmieden

tinaDie BAG-BEK-Vorsitzende Prof. Dr. Tina Friederich forderte in ihrer Begrüßung ebenso, die frühkindliche Bildung stärker auf die politische Agenda zu bringen und warnte davor „nur Löcher zu stopfen und der Deprofessionalisierung Vorschub zu leisten“. Die BAG-BEK böte den verschiedenen Akteur*innen im System KiTa von der Praxis über die Träger und die Aus- und Weiterbildung bis hin zur Wissenschaft die Möglichkeit, sich zu vernetzen und zu verbünden, um die Qualität in der KiTa nach vorne zu bringen. In diesem Sinne kündigte sie für das Frühjahr auch eine große bundeweite Netzwerktagung mit Verbänden, Gewerkschaften, Vereinen und Initiativen sowie eine entsprechende gemeinsame Strategieentwicklung für die frühkindliche Bildung an.

Wohlbefinden als "fuzzy"-Konzept

susanne copyIn ihrem Auftaktvortrag beleuchtete Prof. Dr. Susanne Viernickel von der Universität Leipzig den wissenschaftlichen Diskurs rund um das Wohlbefinden sowie die Möglichkeiten es empirisch zu erfassen. Sie musste allerdings gleich zu Beginn einschränken, dass das Wohlbefinden in „Forschung und Praxis nicht leicht zu erfassen ist“ und ein sogenanntes „fuzzy“-Konzept darstellt, das verschwommen und unscharf sei. Es sei mehrdimensional und komplex und überschneide sich mit verschiedenen anderen Konzepten.

Die Erziehungswissenschaftlerin zeigte zwei Zugänge zum Konzept des Wohlbefindens auf: Einen „makroanalytischen Zugang“, der die Lebensqualität indikatorgestützt und quantifizierend beschreibe sowie einen „mikroanalytischen Zugang“, der die verschiedenen Dimensionen des Wohlbefindens (körperlich, psychologisch, kognitiv, sozial, materiell) konkret in den Blick nehme. Hierbei zeigten sich allerdings zum Teil deutliche Überschneidungen mit Konzepten wie der ResilienzResilienz|||||Resilienz kann als "seelische Widerstandsfähigkeit" verstanden werden mit der Fähigkeit Krisen zu meistern und diese als Anlass für Selbstentwicklungen zu nutzen. In der Resilienzförderung geht es speziell darum die Widerstandsfähigkeit von Kindern und Erwachsenen in belasteten und risikobehafteten Lebenssituationen durch schützende Faktoren zu entwicklen, zu ermutigen und zu stärken. Ein verwandter Begriff ist der der Salutogenese. , der Selbstbestimmungstheorie mit den psychologischen Grundbedürfnissen nach Autonomie, Kompetenz und Sozialer Teilhabe sowie der Bindungstheorie.

Mit Blick auf die Forschungslage musste Susanne Viernickel insgesamt eine „Reduzierung auf nur eine oder wenige Dimensionen“ sowie eine „fehlenden Operationalisierung“ im Hinblick auf die Erfassung des kindlichen Wohlbefindens in der KiTa konstatieren. Im Überblick stellte sie verschiedene Report- und Beobachtungsverfahren wie KOMPIK, die Leuvener „Wellbeing and Involvement Scale“ oder das von ihr gemeinsam mit Prof. Dr. Rahel Dreyer entwickelte „PSW 12-36", einem videobasierten Verfahren zum psycho-sozialen Wohlbefinden von Kindern in der Krippe, vor. Hierauf aufbauend erprobt sie derzeit auch das „WoGe“-Verfahren zur Erfassung von Wohlbefinden und psychischen Gefährdungen in KiTas“.

Kinderperspektiven als neuer Zugang

Als neue Entwicklung der vergangenen Jahre führte sie zudem das „Wohlbefinden aus Kinderperspektive“ an. Hier geben Kinder über Befragungen, erzählgenerierende Gruppendiskussionen, KiTa-Führungen oder Fotodokumentationen selbst Auskunft zu ihrem Wohlbefinden und können die Perspektive von Eltern oder Fachkräften ergänzen.

Aus dem Studienüberblick ergab sich insgesamt ein relativ hohes Wohlbefinden der Kinder in KiTas, wobei ältere Kinder ein höheres Wohlbefinden als jüngere Kinder zeigten. Geschlechtsbezogene Unterschiede konnten dabei nicht festgestellt werden, allerdings negative Zusammenhänge mit Schüchternheit, Introversion, Ängstlichkeit oder sozialer Unsicherheit. Das Betreuungssetting wies im Hinblick z.B. auf folgende Aspekte Zusammenhänge mit kindlichem Wohlbefinden auf:
  • Stabilität von Betreuungsverhältnissen
  • Lärmpegel
  • Fachkraft-Kind-Relation
  • Feinfühligkeit / Interaktionsqualität
  • Besonders hohes Wohlbefinden im freien Spiel
Im Hinblick auf die aktuell nicht zufriedenstellenden Definitionen und Operationalisierungen des kindlichen Wohlbefindens forderte Susanne Viernickel eine entsprechende „Klärung und Relationierung“. Wichtig sei die Erfassung kindlichen Wohlbefindens über verschiedene Situationen hinweg und ein wissenschaftlich fundiertes Verfahren für die pädagogische Praxis.

Kompetentes und resilientes System entwickeln

petraIn einem kurzfristig aufgrund einer Referentinnen-Erkrankung als Ersatz in das Programm genommenen Vortrag beleuchtete BAG-BEK-Vorstandsmitglied Prof. Dr. Petra Strehmel wie in Zeiten des drohenden KiTa-Kollaps trotzdem ein ebenso kompetentes wie resilientes System KiTa entwickelt werden kann. Doch nicht nur die aktuellen Krisenzeiten mit Fachkräftemangel, Pandemie, Klimawandel oder Krieg in der Ukraine stellten sich dabei als herausfordernd da, sondern auch die durch eine „äußerst heterogen aufgestellte Trägerlandschaft“ sowie Föderalismus und Subsidaritätsprinzip gekennzeichnete Grundkonstitution des Systems.

Die Arbeits- und Organisationspsychologin zeigte anhand der „CoRe“-Studie zunächst die verschiedenen Ebenen, Akteur*innen und Kernaufgaben innerhalb eines kompetenten Systems auf. Kompetenz umfasse dabei „Wissen, Handlungspraxis und Werte, die sich in jeder Facette des Systems der frühkindlichen Bildung entfalten“.
Für die institutionelle Leitungs-Ebene führte sie so beispielsweise unter Wissen „Pädagogisches Wissen über frühe Kindheit und Vielfalt“, aber auch das „Wissen über situiertes Lernen und Lerngemeinschaften“ an. Die Handlungspraxis bestehe u.a. aus Konzeptentwicklung, Förderung der professionellen Weiterentwicklung des Personals sowie entsprechender Unterstützung durch Fachberatung, Inter- oder Supervision. Die Werte-Ebene mit weit reichenden Implikationen stellte sie wie folgt dar:
  • Demokratie und Wertschätzung von Vielfalt
  • professionelle Weiterentwicklung als kontinuierlicher Lernprozess
  • professionelles Lernen als rekursive Interaktion zwischen Praxis und theoretischer Interpretation
  • Kindertageseinrichtungen als kritisch reflektierte Gemeinschaften, die sich mit den sich verändernden Bedürfnissen von Kindern, Eltern und der Gesellschaft auseinandersetzen
  • Auffassung von Kitas als Forum für bürgerschaftliches Engagement, welches den sozialen Zusammenhalt fördert

In einem Zwischenfazit musste Petra Strehmel konstatieren, dass die Beziehungen und Interaktionen zwischen den verschiedenen Ebenen des Systems bisher kaum erforscht sind und dass es insgesamt einen unzureichenden Diskurs über das kompetente System gebe.

"Protektive Faktoren" für das System

Die Resilienz umriss Petra Strehmel in der Folge als „Widerstandskraft und die Fähigkeit, sich schnell an Veränderungen anzupassen“. Da Resilienz erst beim Auftreten eines Risikofaktors sichtbar werde, gelte es von vornherein „protektive Faktoren“ zu fördern und eine „Immunität gegen spezifische Krisensituationen“ herzustellen. Als Gefahr des Resilienz-Konzeptes sowohl auf das einzelne Kind wie auf die KiTa bezogen, benannte sie „die Verdeckung von Unzulänglichkeiten“ und „die Individualisierung des Risikos“.

„Organisationale Resilienz“ sei die „Fähigkeit einer Organisation sich verändernden Umwelten anzupassen, um weiterhin in der Lage sein, seine Ziele zu erreichen, zu überleben und zu wachsen“. Protektive Faktoren dafür seien z.B.
  • Geteilte Vision
  • Klarheit der Kernaufgabe
  • Analyse und Beeinflussbarkeit des Umfelds
  • effektive und ermächtigende Leitung
  • kulturelle Elemente, geteiltes Wissen, Verfügbarkeit von Ressourcen
  • Entwicklung und Koordination von Managementformen

Wichtig, so Petra Strehmel abschließend, sei es Risiken wie z.B. Fachkräftemangel, Fluchtbewegungen oder Klimawandel zu antizipieren und entsprechende Vorkehrungen zu treffen, um so auch in Krisensituationen handlungsfähig zu bleiben. Resilienz könne aber auch gezielt durch Leitungs- und Managementstrategien gefördert werden, „welche die Robustheit und Flexibilität sowie die Veränderungsbereitschaft der Organisation und ihrer Mitglieder erhöhen“.

Im Hinblick auf das Gesamtsystem forderte sie „kompetente und widerstandsfähige Individuen und Strukturen auf allen Ebenen“, „partizipative, transparente und flexible Entscheidungs- und Kommunikationsstrukturen innerhalb und zwischen den Ebenen des Systems“ sowie „die Vernetzung und den Aufbau von tragfähigen Arbeitsbeziehungen zwischen den Akteur:innen auf verschiedenen Ebenen des Systems“. Dazu gehöre aber auch eine entsprechende Ressourcenausstattung des Systems – womit der Bogen wieder zum Anfang der Tagung gespannt war, in dem die Politik deutlich in die Verantwortung genommen wurde.

panorama
Im Anschluss an die beiden Hauptvorträge wurden in vier verschiedenen Workshops konkrete Verfahren wie „WoGe“, „WaBE" oder das „Dresdener Modell“ zur Erfassung des Wohlbefindens von Kindern in der KiTa näher vorgestellt. Zudem beleuchtete die AG Gesundheit der BAG-BEK „Die Bedeutung der Resilienz und Gesundheit als systemischer Prozess im Setting KiTa“.

Am zweiten Tag der Herbsttagung stand die Arbeit in den AG’s der BAG-BEK sowie der Austausch über aktuelle Entwicklungen in den Bundesländern im Fokus. Auch hier zeigte sich, dass der Fachkräftemangel das alles beherrschende Thema in der Diskussion um die frühkindliche Bildung ist und dass hier ein Dilemma zwischen kurzfristigen Maßnahmen (Alltagshelfer*innen, Quereinsteiger*innen, „Schnellbesohlungen“) und der Gefahr der dauerhaften Deprofessionalisierung besteht. Hier gilt es sorgsam abzuwägen!

Download Präsentation Petra Strehmel

Download Präsentation Susanne Viernickel (kommt in Kürze)

Lesetipp:
Kindliches Wohlbefinden (Susanne Viernickel)


team
Ein besonderer Dank galt auf der BAG-BEK-Tagung dem Organisationsteam von der Universität Leipzig















Karsten Herrmann