ICEC-Tagung bietet internationale Perspektiven auf frühkindliche Bildung


Wie werden Qualitätsreformen in der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung in anderen Ländern umgesetzt und wird es Zeit für einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel, um das System krisenfest zu machen? Diese Fragen standen im Fokus der 10. Fachtagung des Internationalen Zentrums Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung (ICEC) des DJI.

deligözIn ihrem Grußwort beschrieb Ekin Deligöz, Staatssekretärin im BMFSFJ, die aktuellen Herausforderungen durch die aktuellen Krisen wie Pandemie und Ukraine-Krieg sowie einen grundlegenden rasanten Wandel der Gesellschaft: „Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt und darauf müssen wir unsere Kinder vorbereiten.“ Zugleich unterstrich sie: „Unser Land ist vielfältig und bunt und je früher wir es schaffen, alle Kinder mitzunehmen und zu fördern, um so mehr Chancen eröffnen wir ihnen.“ Dies sei auch wichtig zur Festigung unserer Demokratie.

walper kalickiIn diesem Sinn hob auch DJI-Direktorin Prof. Dr. Sabin Walper hervor, dass „alle Kinder möglichst früh die Chance bekommen müssen, ihre Potenziale zu entfalten“. Dafür komme es entscheidend auf die Qualität der frühkindlichen Bildung an und der Blick in andere Länder sei wichtig, um Stellschrauben für die Qualitätsverbesserung und auch für die Aufhebung der in Deutschland nach wie vor starken Bildungsdisparitäten zu identifizieren. Wie Prof. Dr. Bernhard Kalicki vom DJI ergänzte, arbeite das ICEC dafür unter anderem an einem Europäischen Qualitätsrahmen mit, in dem auch Indikatoren für Qualität enthalten sein werden. Grundsätzlich fördere das ICEC die internationale Vernetzung, forsche im Rahmen von europäischen Erhebungen wie „Starting Strong“ und stelle entsprechende Publikationen zur Verfügung.


Paradigmenwechsel für ein krisenfesten KiTa-System notwendig

urbanNichts weniger als einen globalen Blick nahm Prof. Dr. Mathias Urban von der Dublin City University in seinem Eröffnungsvortrag ein und plädierte für eine „Neukonzeption der frühkindlichen Bildung in Zeiten der Krise“. Hierzu gehöre auch eine „Entkolonialisierung der Diskussion“ und eine „Überwindung des eurozentrischen Denkens“ zum Beispiel auch im Hinblick auf das Bild vom Kind und seine Entwicklung. Wir könnten und müssten aus den vielfältigen Erfahrungen und Modellen des globalen Südens lernen.

Angesichts von Klimawandel, Pandemie, Flucht und Migration müssten wir uns in Deutschland, so Urban, „herauskatapultieren aus der Zeitschleife und den ewig gleichen Diskussionen des 20. Jahrhunderts“ und bei den existenziellen Fragen der Gegenwart ankommen. Corona habe die Bedeutung der frühkindlichen Bildung als Teil der kritischen Infrastruktur beleuchtet und zugleich die schon zuvor vorhandenen Ungleichheiten verschärft – und das nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt.
Mathias Urban forderte, die Systeme der frühkindlichen Bildung „inklusiver, nachhaltiger, resilienter und reaktionsschneller“ zu gestalten. Das von ihm 2012 beschriebene „Kompetente System der frühkindlichen Bildung“ müsse eng mit weiteren Systemen wie der Gesundheit oder der Familienpolitik verzahnt werden. „Wir brauchen einen integrativen Ansatz statt dem Silodenken in Ressortverantwortlichkeiten“ sagte er – und damit einen tief greifenden „Paradigmenwechsel“.

Das kompetente und krisenfeste System der Zukunft müsse weg von individueller Verantwortung und „hin zu einer Interaktion zwischen allen Beteiligten“. Ein solches System sei z.B.:
  • Multi-Sektoral
  • Multi-Dimensional
  • Rechte-basiert (im Hinblick auf Menschen- und Kinderrechte sowie den Klimawandel)
  • Werte-Basiert

Frühkindliche Bildung politisieren

Grundsätzlich sei die frühkindliche Bildung „kein Allheilmittel gegen soziale Benachteiligung“, da diese dem System des globalen Kapitalismus eingeschrieben sei. In diesem Sinne müssten wir auch in größere Debatten-Zusammenhänge einsteigen und die frühkindliche Bildung politisieren: „Unsere Ökonomie ist nicht nachhaltig angelegt und es funktioniert so nicht“ verdeutliche Mathias Urban. Er rief dazu auf jetzt damit ernst zu machen „unseren Planeten zu retten“ und dies nicht den nächsten Generationen zu überlassen.

"Nationale Kinderstrategie" in Finnland

schwartzIm weiteren Verlauf der Tagung wurden konkrete europäische Ansätze und Strategien zur Verbesserung der Qualität der frühkindlichen Bildung präsentiert. Prof. em. Dr Kirsti Karila aus Finnland stellte so unter anderem die 2021 verabschiedete „Nationale Kinderstrategie“ vor, die das Recht auf frühkindliche Bildung ab dem 9. – 10. Monat vorsieht und dessen weitere Ziele eng mit den anderen gesellschaftlichen Sektoren koordiniert werden. Hierzu gehört auch ein System des landesweiten und regionalen Monitorings sowie ein Pilotprojekt, in dem ein zusätzliches Vorschulsystem für 5-6jährige Kinder erprobt wird, um die Bildungsgerechtigkeit zu erhöhen. Als Herausforderung beschrieb Kirsti Karila die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache und eines gemeinsamen Verständnisses des „Educare“ zwischen den verschiedenen pflegerischen, medizinischen und pädagogischen Professionen. Schon jetzt müssen 2/3 der KiTa-Belegschaft in Finnland dabei einen Universitätsabschluss und die KiTa-Leitung sogar einen Master-Abschluss haben.

Dezentrales Qualitätsmonitoring in Dänemark

karilaIm Fokus eines Vortrags von Persille Schwarz aus Dänemark stand ein dezentralisiertes Qualitätsmonitoring für die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung. In Dänemark gibt es ein Anrecht auf Kinderbetreuung nach dem Mutterschutz und 92,6 Prozent der 1-2jährigen Kinder sowie 96,4 Prozent der 3-6jährigen Kinder nehmen das auch in Anspruch. In einem großen Beteiligungsprozess wurde auch ein „Nationales Rahmencurriculum“ verabschiedet, in dem das Kind und seine Bedürfnisse sowie das freie Spiel im Mittelpunkt stehen. Die „Realisierung“ dieser Vorgaben werden in einem Zusammenspiel einer Nationalen Agentur mit den lokalen Behörden vor Ort überprüft. Die Nationale Agentur leistet dabei Support und Coaching für die Durchführung der Evaluation vor Ort und stellt entsprechende Materialien zur Verfügung. Für die Evaluation wurden Mindeststandards definiert, so z.B. quantitative und qualitative Erhebungen, angekündigte und angekündigte Besuche in den KiTas, der Dialog mit Leitung und Team oder eine Veröffentlichung des jeweiligen Evaluations-Modells. Zukünftig soll auch die Berücksichtigung der Kinderperspektive als Mindeststandard aufgenommen werden.

Ernüchterndes Bild aus Frankreich

GarnierEin eher ernüchterndes Bild zeichnete Prof. Dr. Pascale Garnier aus Frankreich von der frühkindlichen Bildung und Betreuung der Kleinsten. Das System vor der mit drei Jahren beginnenden und schon stark verschulten Ecole Maternelle gleich demnach einem Flickenteppich und in denen mit unseren KiTas vergleichbaren „Care Center“ finden nur 20 Prozent der Kleinsten einen Platz. Daneben spielt die mit unserer Kindertagespflege vergleichbaren „Childminders“ mit 40 Prozent sowie die familiäre Betreuung eine große Rolle. Pascale Garnier konstatierte hier „sehr unterschiedliche Qualifizierungsniveaus in verschiedenen Professionen sowie „große soziale und geographische Inkohärenzen“ im System.

"Die Hütte brennt"

podium copy copyIn einer abschließenden Podiumsdiskussion stand noch einmal die Bedeutung des internationalen Austauschs im Fokus. Dr. Monika Lütke-Entrup vom Niedersächsischen Kultusministerium wies darauf hin, dass schon der Bundeländer-Austausch in der JFMK viele neue Perspektiven und verschiedenen Vergleichsmodelle biete. Zugleich unterstrich sie ebenso wie Claudia Fligge-Hoffjan vom BMFSJF die Bedeutung der Zusammenarbeit auf EU-Ebene wie aktuell zu einem europäischen Qualitätsrahmen oder in der Forschung. Allessandro Novellino von der GEW berichtete von einem starken gewerkschaftlichen Austausch zu den Bildungssystemen in Europa und forderte die viel stärkere „Vermittlung einer europäischen Identität“ schon in den KiTas. Sehr kritisch nahm Stefan Spieker von der Fröbel Bildung und Erziehung GmbH im Vergleich mit anderen Ländern unser deutsches KiTa-System in den Blick: So seien wir sowohl bei der Qualitäts-Messung als auch bei der Digitalisierung, in der gerade auch im Hinblick auf die Verwaltung riesiges Potenzial stecke „ein Entwicklungsland“ und die Diskussion um Basiskompetenzen sei „bei uns in der Szene“ noch gar nicht angekommen. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht abgehängt werden“ mahnte er und sah ein gravierendes „Verfahrens- und Umsetzungsproblem“. Mathias Urban stellte sich als entscheidende Frage „Wie können wir miteinander und voneinander über Grenzen hinweg lernen?“ Er rief dazu auf „Kritisches Wissen und kritische Praxis aus anderen Ländern dieser Welt“ für die Krisenbewältigung hierzulande nutzbar zu machen - und dass wir in einer Krise stecken brachte Susanne Walper mit „Die Hütte brennt“ abschließend auf den Punkt.
Karsten Herrmann