Leitlinien für riskantes Spiel

Kinder brauchen herausforderndes und riskantes Spiel, um Sicherheit im Umgang mit Risiken zu gewinnen

In Kinderbüchern findet man sie zuhauf – Kinder, die allein draußen spielen und dabei immer wieder auch Risiken eingehen. Pippi Langstrumpf, Ronja Räubertochter und viele weitere wecken die Abenteuerlust der Kinder, denn auch sie verspüren den Drang, riskante Dinge zu tun.

Ellen Sandseter forscht seit 15 Jahren zum sogenannten riskanten Spiel (Risky Play) und definiert es als eine spannende und aufregende Form des physischen Spiels, das Ungewissheit und das Risiko einer körperlichen Verletzung beinhaltet (Sandseter, 2007; Sandseter & Jensen, 2022). Kinder gehen insbesondere während des freien Spiels und häufiger draußen als drinnen Risiken ein. Sie klettern und balancieren in großer Höhe, rasen mit Fahrzeugen über das Außengelände der Kindertageseinrichtung oder schaukeln ineinander hinein. Auch Kampfspiele sind häufig zu beobachten sowie ein großes Interesse am Schnitzen oder Sägen mit echtem Werkzeug. Feuer und Abgründe scheinen Kinder magisch anzuziehen. In ihrem Entdeckerdrang riskieren Kinder manchmal auch, sich zu verlaufen. Aber nicht nur das eigene riskante Spiel ist für Kinder aufregend: Sie schauen auch gern zu, wie andere Kinder riskante Dinge tun. Im Schulalter kann auch das bewusste Übertreten von Regeln zum riskanten Spiel werden (Hinchion, McAuliffe, & Lynch, 2021).

Ist das nicht zu gefährlich?

Was reizt Kinder am Risiko und warum sollten pädagogische Fachkräfte riskantes Spiel ermöglichen? Kinder brauchen riskantes Spiel, um zu lernen, mit Risiken angemessen umzugehen und einschätzen zu können, welche Risiken sie bewältigen können. Dafür müssen sie Entscheidungen treffen und lernen, Konsequenzen ihres Handelns direkt zu erkennen. Studien belegen, dass sich riskantes Spiel in allen Entwicklungsbereichen positiv auswirkt und den Aufbau verschiedenster Kompetenzen unterstützt – beispielsweise der Grob- und Feinmotorik, der Kreativität und der Körperwahrnehmung (Cooke, Wong, & Press, 2020; Mc Farland & Laird, 2020; Obee et al., 2021).

Was Kinder am Risiko reizt, zeigte sich bei einer Befragung: Die Kinder gaben an, dass sie beim Spielen Risiken eingehen, weil sie zugleich aufgeregt und ängstlich (scary-funny) sind und Dinge meistern, bei denen sie nicht gedacht hätten, dass sie es schaffen würden (Sandseter, 2010, S. 100). Sie lernen also, ihre Ängste zu bewältigen. Das Spiel muss so gestaltet sein, dass die Angst nicht überwiegt und die Kinder das Risiko mittels ihrer Fähigkeiten meistern können. Dadurch entstehen Freude sowie Stolz und nach und nach verschieben sich die Grenzen der Kinder.

Ohne Risiko keine Sicherheit

Riskantes Spiel geht zwar mit einem Verletzungsrisiko einher, steht aber der Sicherheit der Kinder nicht im Weg, sondern fördert diese sogar. Die meisten Unfälle entstehen, weil die motorischen Fähigkeiten der Kinder nicht ausreichen oder weil die Kinder Spielzeug und Spielgeräte falsch nutzen. Das riskante Spiel wirkt dem doppelt entgegen: Kinder lernen zum einen, Risiken einzuschätzen und zu bewältigen, und verbessern zum anderen ihre motorischen Fähigkeiten. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (2020) sieht Risikoförderung deshalb als Teil der Sicherheitsförderung an, weil ohne Risiko keine Sicherheit entstehen könne.

Ein Risiko ist situations- und subjektabhängig, weshalb die Möglichkeit besteht, es zu bewältigen. Im Gegensatz dazu besteht eine Gefahr immer und für jeden und sie lässt sich nicht kontrollieren. Pädagogische Fachkräfte sollten Gefahrensituationen deshalb verhindern. Als Leitspruch kann gelten, dass Kinder so sicher wie nötig, aber nicht wie möglich sein sollten. Zur Sicherheit von Kindern trägt dabei am meisten die Aus- und Fortbildung der pädagogischen Fachkräfte bei und nicht die generelle Einschränkung der Kinder bei der Nutzung eines Geländes – mit Ausnahme bei Gefahren (Wyver et al., 2010).

Risiko bewerten

Das Risiko von Spielbereichen lässt sich anhand folgender Fragen bewerten:
  • Welche Chancen für Lernerfahrungen und Bildungsprozesse ergeben sich in der Situation?
  • Welche Risiken und Gefahren bestehen? Wie können diese jeweils eingestuft werden (gering, mittel, hoch)?
  • Wer könnte verletzt werden und wie?
  • Welche Maßnahmen sind erforderlich, um Gefahren vorzubeugen?

Die Antworten wirken sich auf die Umsetzung aus. Dabei ist es wichtig, konkret zu klären, wer wann welche Maßnahmen ergreift. Grundsätzlich müssen zudem alle pädagogischen Fachkräfte in Erster Hilfe geschult sein und über Kenntnisse zu Giftpflanzen verfügen. Sofern pädagogische Fachkräfte qualitativ hochwertige Arbeit im Sinne einer Prüfung von Handlungsalternativen sowie der Begründung der eigenen Arbeitsweise leisten, haben sie laut Prott (2015) auch in den seltenen Fällen, in denen es zu einem Schaden kommt, wenig zu befürchten.

Riskantes Spiel ermöglichen

In den meisten Bildungseinrichtungen für Kinder findet riskantes Spiel vermutlich statt, ohne dass die Fachkräfte es als solches erkennen. Riskantes Spiel kann und sollte jedoch auch gezielt unterstützt werden. Dazu bieten sich insbesondere die Gestaltung des Außengeländes und der Einrichtung sowie die Nutzung von Naturarealen (Wald, Berge usw.) an.

Für das Spiel mit großen Höhen beispielsweise sollten Kindern Kletterbäume, ein hügeliges Außengelände mit starken Steigungen oder ein Klettergerüst zur Verfügung stehen. Klettergelegenheiten sollten verschiedene Höhen bieten, damit sich die älteren Kinder nicht langweilen.

Daneben sollte eine Schaukel vorhanden sein, die auch das Erreichen einer hohen Geschwindigkeit ermöglicht. Kinder ab dem sechsten Lebensjahr sollten zudem mit dem Schaukeln experimentieren dürfen – beispielsweise sehr schnell schaukeln oder an einer hoch aufgehängten Schaukel schwingen. Zum Balancieren benötigen die Kinder unterschiedlich hohe Objekte, zum Beispiel liegende Baumstämme, Mauern oder eine Slackline. Flache Objekte, wie liegende Baumstämme, können älteren Kindern zugleich als Herausforderung für Hindernislauf dienen.

Fahrzeuge wie Dreiräder, Laufräder oder Roller ermöglichen das Spiel mit hoher Geschwindigkeit. Als Fahrstrecke sollten neben flachen Strecken auch Hügel genutzt werden, von denen die Kinder herunterfahren können. Eine hohe Geschwindigkeit können Kinder auch beim Rennen erreichen.

Jedes Kind sollte seine eigene, zu seinen Fähigkeiten passende Herausforderung suchen können, indem es beispielsweise selbst bestimmt, von welcher Höhe es hinunterrennt oder -fährt. Hindernisse bieten eine zusätzliche Herausforderung.

Im Winter können die Kinder Hügel auch zum Rodeln nutzen. Dafür sollten verschiedene Gegenstände zur Verfügung stehen. Sofern auf dem Außengelände einer Bildungseinrichtung keine Hügel vorhanden sind, kann das Spiel mit hoher Geschwindigkeit auf Ausflügen ermöglicht werden. Die oben genannten Fahrzeuge lassen sich auch für Spiele mit Aufprall nutzen. Die Kinder sollten dabei experimentieren dürfen, gegen welche Personen oder Objekte sie laufen, fahren oder auch schaukeln. Da bei solchen Spielen möglicherweise andere Kinder beteiligt sind, sollten im Vorfeld gemeinsam mit den Kindern Regeln aufgestellt werden.

Gefahren vermeiden

Entsprechende Überlegungen können für andere Bereiche riskanten Spiels konkretisiert werden, zum Beispiel für den Umgang mit Werkzeugen oder das Spiel in herausforderndem Gelände. Bei Ausflügen in die Natur müssen pädagogische Fachkräfte im Vorfeld darüber nachdenken, was sie den Kindern erlauben und was sie verbieten wollen. Im Wald gibt es sehr viele Möglichkeiten für riskantes Spiel, aber auch Gefahren (Schulz, 2008). Die pädagogischen Fachkräfte sollten Kletterbäume gezielt auswählen und gemeinsam mit den Kindern alle darunterliegenden harten Gegenstände wie Steine oder Hölzer entfernen. Auch für das Balancieren müssen geeignete Baumstämme ausgesucht werden. Auf gestapelten Baumstämmen zu balancieren ist dagegen immer eine Gefahr und muss grundsätzlich verboten werden. Das Aussuchen von Balancier- und Klettermöglichkeiten sollte mit den Kindern gemeinsam geschehen, weil es zugleich eine gute Möglichkeit bietet, über Gefahren zu sprechen.

Entscheidet sich das pädagogische Team einer Bildungseinrichtung dazu, das riskante Spiel der Kinder zu unterstützen, müssen sie die Erziehungsberechtigten entsprechend informieren. Das kann anhand eines Elternbriefs oder eines Plakats geschehen, besser eignet sich jedoch ein thematischer Elternabend, um aufkommende Fragen direkt zu klären. Dabei sollte vermittelt werden: Sicherheit entsteht durch das Erlernen eines guten Umgangs mit Risiken.


Zum Weiterlesen
  • Sandseter, E.B. H. & Jensen, J.-O.(Hrsg.) (2022). Wild und gefährlich? Riskantes Spiel bei Kindern. Hintergründe, Entwicklungspotenziale und Spielformen für Kita und Schule. Mülheim: Verlag an der Ruhr.
Buchbesprechung dazu hier: Wild und gefährlich spielen in der KiTa?

Literaturverzeichnis

Cooke,M., Wong,S. & Press,F. (2020). High quality educators’ conceptualisation of children’s risk-taking in early childhood education: provoking educators to think more broadly. European Early Childhood Education Research Journal, 28(3), 424–438. https://doi.org/10.1080/1350293X.2020.1755499

Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V. (2020). Außenspielflächen und Spielplatzgeräte(DGUV Information 202-022). Verfügbar unter: https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/1383

Hinchion,S., McAuliffe,E. & Lynch,H. (2021). Fraught with frights or full of fun: perspectives of risky play among six-to-eight-year olds. European Early Childhood Education Research Journal, 1–19. https://doi.org/10.1080/1350293X.2021.1968460

McFarland,L. & Laird,S.G. (2020). “She’s Only Two”: Parents and Educators as Gatekeepers of Children’s Opportunities for Nature-Based Risky Play. In A. Cutter-Mackenzie-Knowles, K. Malone & E. Barratt Hacking (Eds.), Research Handbook on Childhoodnature. Assemblages of Childhood and Nature Research (Springer international handbooks of education, 1sted., S.1075–1098). Cham: Springer International Publishing; Imprint Springer.
 https://doi.org/10.1007/978-3-319-67286-1_58

Obee,P., Sandseter,E.B.H., Gerlach,A. & Harper,N.J. (2021). Lessons Learned from Norway on Risky Play in Early Childhood Education and Care (ECEC). Early Childhood Education Journal, 49(1), 99–109. https://doi.org/10.1007/s10643-020-01044-6

Prott,R. (2015). Aufsichtspflicht. Rechtshandbuch für Erzieherinnen und Eltern (3., erweiterte Auflage). Weimar: Verlag das Netz.Sandseter,E.B.H. (2011). Children's risky play in early childhood education and care. childlinks, 2–5. Verfügbar unter:

https://knowledge.barnardos.ie/bitstream/handle/20.500.13085/166/childlinks_issue_3_2011_0250.pdf?sequence=1&isAllowed=y

Sandseter,E.B.H. (2007). Categorising risky play -how can we identify risk‐taking in children's play? European Early Childhood Education Research Journal, 15(2), 237–252. https://doi.org/10.1080/13502930701321733

Sandseter,E.B.H. (2010). Scaryfunny: A Qualitative Study of Risky Play Among Preschool Children. Doctoral Thesis. Queen Maud's University College, Trondheim. Verfügbar unter: https://ntnuopen.ntnu.no/ntnu-xmlui/handle/11250/270413

Sandseter,E.B.H. & Jensen,J.‐O. (Hrsg.). (2022). Wild und gefährlich? Riskantes Spiel bei Kindern. Hintergründe, Entwicklungspotenziale und Spielformen für Kita und Schule. Mülheim: Verlag an der Ruhr; Cornelsen bei Verlag an der Ruhr.

Schulz,R. (2008). Sicherheit im Waldkindergarten. Empfehlungen für die Sicherheit von Kindern und Kindergartenpersonal im Waldkindergarten (Nordelbisches Kirchenamt Kiel, Hrsg.). Kiel.

Wyver,S., Tranter,P., Naughton,G., Little,H., Sandseter,E.B.H. & Bundy,A. (2010). Ten Ways to Restrict Children's Freedom to Play: The Problem of Surplus Safety. Contemporary Issues in Early Childhood, 11(3), 263–277.
https://doi.org/10.2304/ciec.2010.11.3.263


Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus:
4 bis 8, Fachzeitschrift für Kindergarten und Unterstufe,Oktober 2023, Nr. 7, S. 28-29


Verwandte Themen und Schlagworte