Kinderschutzkonzept – und jetzt?

Aktiver Kinderschutz als partizipative Organisationsentwicklung

Im letzten Jahr haben viele Kindertageseinrichtungen ihr einrichtungsbezogenes Schutzkonzept fertig gestellt. Nach dem Verschriftlichen steht nun die Frage im Raum, wie das theoretisch Erarbeitete auch ganz praktisch und nachhaltig im Alltag umgesetzt werden kann: Wie sieht aktiver Kinderschutz in der konkreten Handlung aus?

Aufgrund der angespannten Personalsituation in vielen Einrichtungen fand die Verschriftlichung des Kinderschutzkonzeptes nicht immer als gemeinsamer Prozess aller pädagogischer Kräfte statt, sondern durch Einzelne. Dennoch, eine Sensibilisierung für das Thema Kinderschutz mit seinen vielen Facetten, erfolgte wohl in den meisten Kitas. Das Bewusstsein für unterschiedliche (emotionale, körperliche und sexuelle) Grenzverletzungen oder Übergriffe wurde geschärft. Doch wie nun weiter? Was mache ich mit meinem (neuen) Wissen über Grenzverletzungen? Ob absichtlich oder aus Versehen, im eigenen Handeln oder ausgehend von Kolleg*innen?

Im Kitabereich ist besonders das strukturelle Ungleichgewicht zwischen Kindern und Erwachsenen bedeutsam. Sich mit Macht und (auch ungewolltem, strukturell verankertem oder unbemerktem) Machtmissbrauch auseinander zu setzen ist wesentlich. Denn das körperliche und emotionale Wohlergehen der Kinder ist abhängig von den Erwachsenen. Kinder sind daher auf ein reflektiertes Gegenüber angewiesen.

Die Auseinandersetzung mit dem Kinderschutz schärft den Blick für verletzendes Verhalten: Hat sich auch bei uns ein gewisser Umgang etabliert, der kritisch bewertet werden muss?

  • Gibt es zum Beispiel Kolleg*innen, die Kinder immer wieder einfach auf den Schoß nehmen?
  • Oder streicht die Leitung beim Hausrundgang den Kindern unkommentiert über den Kopf?
  • Wird beim Essen mit Nachdruck auf dem »Probierhappen« bestanden?
  • Wie gehe ich damit um, dass meine Kollegin immer wieder Kinder separiert, wenn diese etwas getan haben, das die Kollegin verärgert hat?
  • Wie reagiere ich, wenn mein deutlich überlasteter Kollege ein Kind anfährt, welches »wieder« nicht rechtzeitig zur Toilette gegangen ist und nun auch der Spielteppich gereinigt werden muss?

Die Aufgabe für Teams ist es, den Schutzgedanken in der Praxis zu leben. Mit dem Schreiben des Kinderschutzkonzeptes ist die Arbeit jedoch nicht getan. Es geht vielmehr darum, ins konkrete Handeln zu kommen. Oft fällt es z.B. schwer, eine Kollegin auf ihr Fehlverhalten anzusprechen. Aber genau das ist notwendig. Es braucht nicht nur ein gemeinsames Verständnis von (un)angemessenem Verhalten, sondern eine Feedback-Kultur, die es erlaubt sich direkt anzusprechen und dennoch weiterhin vertrauensvoll miteinander zu arbeiten. Es braucht Räume für kritische (Selbst-)Reflexion.

Beschwerdemanagement

»Kinder, die sich selbstbewusst für ihre Rechte und Bedürfnisse einsetzen und sich wertgeschätzt und wirksam fühlen, sind besser vor Gefährdungen geschützt.« (1) Diese Aussage kann als deutlicher Appell zum aktiven Kinderschutz verstanden werden. Neben der aktiven Beteiligung von Kindern sind deren Beschwerden von Bedeutung. Sie können mittels verschiedener Verfahren (2) aufgenommen werden.

Ebenso wichtig ist es, entsprechende Feinzeichen der Kinder ernstund wahrzunehmen. Diese können je nach Altersgruppe ganz unterschiedlich ausfallen und sind nicht immer eindeutig. Beispielsweise können zugehaltene Ohren ein Zeichen für einen zu hohen Lärmpegel sein bzw. für Überforderung oder auch dafür, dass ein Lied nicht gefällt. Ein weiteres Beispiel ist das Wickeln: Wie reagiere ich auf Kinder, die sich von mir nicht wickeln lassen wollen? Nehme ich diese deutliche Grenzziehung wahr und an? Welche Alternativen gibt es? Binde ich Kinder aktiv in meine Überlegungen mit ein?

Aufgrund des Machtverhältnisses brauchen Kinder feinfühlige und responsive Menschen als Gegenüber. (3) Im Team gilt es gemeinsam eine entsprechende Haltung und Kultur für die Praxis zu entwickeln. Dies erfordert Zeit und Auseinandersetzung und kann als partizipative Organisationsentwicklung verstanden werden. Es geht darum alle Beteiligten einzubinden, sich über Begrifflichkeiten und deren Deutung auszutauschen und zu einem gemeinsamen Handlungsleitbild zu gelangen.

Unterstützungssysteme von außen nutzen

Einen wichtigen Beitrag in diesen Organisationsentwicklungsprozessen spielen externe und trägerunabhängige Berater*innen. Sie können unvoreingenommen Möglichkeiten zum Austausch für Kita-Teams schaffen, z.B. über Begriffe wie »Wohlbefinden« oder »Nähe und Distanz«: Was bedeutet Wohlbefinden für mich? Was benötige ich dafür? Wieviel Nähe oder Distanz empfinde ich als (un)angenehm? In welchen Situationen wird das für mich deutlich? Beim Erarbeiten einer Verhaltensampel (z.B. in Kleingruppen) werden ganz konkrete Handlungen den farblichen Bereichen grün, gelb und rot zugeordnet.

  • Welches Verhalten ist erwünscht bzw. berechtigt, also im »grünen Bereich«?
  • Wann ist der Kontext maßgeblich oder bei welchen Handlungen besteht Unsicherheit? Diese werden dem gelben Bereich zugeordnet und später diskutiert.
  • Rot werden jene Verhaltensweisen zugeordnet, die nicht tolerierbar sind.
Häufig zeigt sich, dass unterschiedliche Sichtweisen, Sozialisation oder auch Fachwissen zu verschiedenen Interpretationen führen. Wichtig ist, dass hier der Dialog darüber eröffnet wird: Wie komme ich zu der vorgenommenen Zuordnung? Was waren meine Gedanken und Gefühle dabei? Wie wollen wir uns als Team verhalten? Was ist unser pädagogischer Auftrag?

Ziel dieser Übung ist es, ein gemeinsames Verständnis im Team zu entwickeln, wie Kindern begegnet und die Interaktionen gestaltet werden sollen. (4)

Feedback-Kultur

Im nächsten Schritt sollte nun erarbeitet werden, was jede*r Einzelne im Team tun kann, wenn Grenzüberschreitungen (Verhalten im gelben Bereich) oder Grenzverletzungen (Verhalten im roten Bereich) beobachtet werden. Wie zeitnah sollte ich reagieren? Suche ich einen Zeitpunkt am selben Tag um das Verhalten anzusprechen? Oder muss ich sofort eingreifen um das betroffene Kind zu schützen? Wie positioniere ich mich für das Kind? Womit kann ich meine*n Kolleg*in in der herausfordernden Situation entlasten, ohne sie oder ihn bloßzustellen?

Grundlegend benötigt es für eine gelingende Feedback-Kultur ein von Vertrauen geprägtes Miteinander im Team. Dann kann ich Feedback als Erweiterung der eigenen Wahrnehmung verstehen. Mir wird durch mein Gegenüber eine zusätzliche Sicht angeboten. Der »blinde Fleck« im Johari-Fenster (5) ist mir allein nicht zugänglich. Das heißt, dass ich mir bestimmte Wirkungen meines Handelns nicht selbst bewusst machen kann, sondern auf mein Gegenüber angewiesen bin. Welche Botschaft sende ich z.B. dem Kind, wenn ich es auf meinen Schoß nehme, ohne dass es von sich aus Körperkontakt gesucht hat? Stelle ich hier (unbewusst) mein Bedürfnis nach Nähe deutlich über das Bedürfnis des Kindes, welches vielleicht gerade nur etwas erzählen wollte?

Ziel und Leitgedanke sollte sein, dass das Team gemeinsam für das Wohl der Kinder agiert und sich gegenseitig dabei unterstützt. Als Vorbild sollte die Kita-Leitung voran gehen, aktiv Feedback einholen und auch annehmen. Feedback soll stets konstruktiv sein und unabhängig von Hierarchien gegeben werden können. Anfangs mag es schwerfallen, das eigene Verhalten nicht sofort zu verteidigen, sondern die Fremdwahrnehmung als Chance zu begreifen.

Kinderschutzbeauftrage im eigenen Team etablieren

Bei allem Anspruch bleibt klar, dass nicht alle Grenzüberschreitungen verhindert werden können. In besonders herausfordernden Situationen ist es ein rein biologischer Effekt, dass sich unsere Aufmerksamkeit fokussiert und wir einen Tunnelblick einnehmen. Dann passiert es schnell, dass Feinzeichen übersehen oder Dialoge mit Kindern zu schnell geführt werden, eine Gewichtung der Bedürfnisse (von Kindern und Erwachsenen) erfolgt und vielleicht vorschnell entschieden wird. Diese Situationen gilt es regelmäßig zu reflektieren, mit Einzelnen und im Team. Sehr hilfreich kann es sein, eine Person als Kinderschutzbeauftragte zu etablieren. Sie wird vom Träger für die eigene Fortbildung und Vernetzung mit anderen Schutzbeauftragten, Beratungsstellen, Fachberatung etc. freigestellt und trägt ihr Wissen ins Team. Sie trägt in besonderer Weise dafür Verantwortung, verletzendes Verhalten immer wieder in den Blick zu nehmen, zu benennen und besprechbar zu machen.

Fazit

Aktiver Kinderschutz kann nur als kontinuierliche und partizipative Organisationsentwicklung gelingen. Es gilt regelmäßig sich mit verändernden Strukturen und wechselnden Beteiligten zu befassen und pädagogisches Handeln anzupassen. Ein gemeinsames Verständigen auf eine gelebte Wertehaltung, die Beschwerden und Grenzverletzungen ernst nimmt, Raum für Reflexion und Feedback gibt, ist mitunter sehr herausfordernd – und unumgänglich.
Dieser Prozess der Weiterentwicklung kann durch unabhängige externe Begleitung unterstützt und bereichert werden. Angebote wie Fachberatung, Pädagogische Qualitätsbegleitung, Coaching oder Supervision stehen hierfür zur Verfügung.


Fußnoten
(1) Kinderrechte stärken! Beschwerdeverfahren für Kinder in Kindertageseinrichtungen, Der Paritätische, S. 6.
(2) Eine gute Arbeitshilfe ist die Broschüre »Kinderrechte stärken! Beschwerdeverfahren für Kinder in Kindertageseinrichtungen« von: Der Paritätische, aktualisiert Dezember 2022.
(3) Zur Reflexion eignet sich das Kartenset »Feinfühlig reagieren« von Daniela Mayer u. Julia Berkic, Staatsinstitut für Frühpädagogik 2021.
(4) Zur eigenen Reflexion kann der Qualitätskompass des Staatsinstituts für Frühpädagogik und Medienkompetenz genutzt werden. https://www.ifp.bayern.de/imperia/md/content/stmas/ifp/pqb-
qualitatskompass_september_2020.pdf
(5) Das Johari-Fenster ist ein Kommunikationsmodell, welches Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung grafisch darstellt und auf den »blinden Fleck« der eigenen Wahrnehmung verweist.

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
KiTa aktuell ND 6-2023, S. 12-14